Ein 100.000 Liter Becken mit Korallenriff? Ist das der richtige „Lebensraum“? Sollten Haie nachbesetzt werden?
Im Tierpark Hellabrunn ist vor einigen Tagen das Schwarzspitzen-Riffhai-Weibchen Else im Alter von ca. 20 Jahren verstorben. Vor drei Jahren verstarb ihr gleichaltriger Partner Kurt. Seither zog Else alleine ihre Bahnen durch das 100.000 Liter-Becken mit Korallenriff. 18 Jahre lang war Hellabrunn der „Lebensraum“ der beiden Haie.
Mag man den hauseigenen Berichten von Hellabrunn glauben, so wird gerade ein Nachbesatz (ein Einsetzen von Ersatzhai/en) mit der Koordinatorin des Europäischen Zuchtbuches für Schwarzspitzen-Riffhaie abgestimmt.
Wie sieht das Leben eines Schwarzspitzen-Riffhais in einem solchen Aquarium aus?
In einem Aquarium zur Welt gekommen, gibt es für den Nachwuchs nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Mutter über einige bis viele Wochen von den anderen Haien separiert, meist in sehr kleine Aquarienbereiche, damit Mutter und Nachwuchs bei und nach der Geburt nicht den anderen Haien zum Opfer fallen. Oder die Mutter verbleibt im Aquarium und das Leben der gerade geborenen Haie und bisweilen auch der Mutter wird sehr schnell beendet. Sie werden regelrecht zum „Haihappen“ der anderen Schwarzspitzen-Riffhaie, auch des Vaters. Die Natur hat es in den Meeren so eingerichtet, dass die Mutter sich in flache Riffbereiche oder in die Nähe von Mangroven zurückzieht und dort ihre Jungen, geschützt vor den Artgenossen, zur Welt bringt. Die Mauern eines Aquariums sind indes endlich! Selbst die (während der Geburt hormonell bedingte) Fresshemmung der Mutter gegenüber den eigenen Jungen lässt sehr schnell nach, sodass diese in einem kleinen Aquarienbecken durchaus sogar der eigenen Mutter zum Opfer fallen können.
Haben die Jungen diese erste Gefahrenzeit überlebt, werden sie in das „Erhaltungszuchtprogramm“ aufgenommen. Dieser Ausdruck suggeriert, dass diese Tiere durch Zuchtprogramme in Zoos geschützt würden. Gerne wird hier der Status der Roten Liste der IUCN zitiert, um darauf hinzuweisen, dass viele Haiarten gefährdet sind, und daher Zuchtprogramme positiv zu bewerten seien. Dies ist ein Märchen: Schwarzspitzen-Riffhaie können und dürfen nicht ausgewildert werden, also nie in die freie Natur der Meere entlassen werden.
Also dient das Nachzüchten nur einem einzigen Zweck: Haie in die Aquarien der europäischen Zoos nachzubesetzen.
Wobei: selbst das gelingt nur unzureichend: 2014 wurden überhaupt erstmalig Schwarzspitzen-Riffhaie in einem Aquarium erfolgreich gezüchtet.
Positiv hieran ist nur eines: Haie in Zoos werden insofern nicht dem Meer entnommen, als Wildfang. In den Niederlanden agiert Europas tüchtigster Aquarienhändler, der annähernd jeden Wildfang anbietet und (mit enorm hohen Mortalitätsraten) ausliefert.
Schwarzspitzen-Riffhaie verfügen nicht über eine aktive Atmung: sie können Wasser nicht „pumpen“. Sie müssen vielmehr vorwärts schwimmen, damit das Wasser durch die Kiemen strömt und sie so atmen können. Anders als z.B. Ammenhaie ersticken sie, wenn sie nicht schwimmen können. Sie sind daher auf Gedeih und Verderb auf die Aquarientechnik der Gegenstromanlagen angewiesen. Versagt die Technik, besteht akute Lebensgefahr, ohne eine andere greifbare Möglichkeit der Rettung als die Wiederingangsetzung der Anlage.
Die Becken sind zudem meistens viel zu klein. Die 100.000 Liter in Hellabrunn entsprechen einer Beckengröße von 10 x 4 x 2,5 Metern. Für einen ausgewachsenen Schwarzspitzen-Riffhai mit seiner Länge von 1,6 Metern kommt das einer Einzelzelle in einem menschlichen Gefängnis gleich: in freier Wildbahn durchstreifen sie eine Fläche von mehreren Quadratkilometern. Leider existieren keine gesetzlich geregelten Mindestanforderungen für die Haltung von Haien, nicht einmal für Zoos.
Zuletzt: Haie sind intelligente Tiere mit einem komplexen Sozialverhalten. Auch Schwarzspitzen-Riffhaie haben eine Rangordnung und kennen „Freund und Feind“. Es kann durchaus vorkommen, dass sie Rangkämpfe ausfechten und sich dabei gegenseitig verletzen. Der Neubesatz mit Haien ist somit stets auch ein Risiko, das letztlich immer zu Lasten der Tiere geht.
Schwarzspitzen-Riffhaie schwimmen in Aquarien stumpf ihre Bahnen, verletzen sich gegenseitig oder an den Korallen oder den Wänden, und sterben irgendwann – oft zu früh: Im Ozean können diese Haie bis zu 40 Jahre alt werden, in Aquarien ist die Lebensspanne oft deutlich kürzer, gar nur halb so lang. Wie bei Kurt und Else.
Daher appelliert ElasmOcean, keine Schwarzspitzen-Riffhaie bewusst zu züchten und in Aquarien oder Zoos nachzubesetzen. Diese Haiart gehört nicht in ein Aquarium.