Keine 60 Kilometer trennen die spanische Küstenstadt Vigo von der Hauptstadt Galiciens, Santiago de Compostela, vielen als Endpunkt und Wallfahrtsort des Jacobswegs bekannt. Galicien ist grün und sprichwörtlich „frisch“. Während der Rest Spaniens im Juli 2023 unter einer erschreckenden Hitzewelle leidet, herrschen hier sommerliche Temperaturen zwischen 19°C und 25°C bei Sonnenschein und regelmäßigem Regen. Es ist die raue, nördliche und sehr grüne Atlantikküste Spaniens.
Diesen Ort auf Europas größten Fischmarkt und (damit verbunden) auf den Haifang zu reduzieren, ist uns nicht genug. Diesen Teil von Vigo haben wir schon besucht, und es gibt darüber auch mehrere Berichte. Wir waren wieder vor Ort, um in den nächsten Wochen eine Serie über Vigo zu zeigen. Zugegeben: Momentaufnahmen, teils zufällig, teils gewollt. Über die positiven Seiten wie über die negativen, über die schönen Dinge wie über die schrecklichen. Vigo 2023: Ein Ort, der vieles beinhaltet, ambivalent ist und zum Nachdenken anregt.
Porto de Vigo, der Hafen.
Haischützer denken bei der Ortsangabe Vigo in erster Linie an blutige Bilder großer Mengen toter Haie: zweifelsfrei nicht schön und für uns als Meeresschützer und Teil der Inititative #StopFinningEU bewegender denn je.
Vigo ist jedoch mehr als der Anlandepunkt von Blauhaien. Sie waren allerdings der Hauptgrund, mit unserem Team der Stadt und den Fischauktionshallen einen Besuch abzustatten. Vor Ort aber wurden wir nachdenklich: hat Vigo es nötig, hat die Stadt es verdient, allein als Haiumschlagplatz berüchtigt zu sein? Könnte die Stadt keinen anderen Ruf haben? Wäre es nicht schön, wenn die Stadt auch ohne Haikadaver bestehen könnte?
Wir haben genauer hingesehen, und einen Ort entdeckt, der durchaus auch positive Aspekte vereint und viele Menschen, die sehr freundlich sind und nachhaltig denken. Vigo hat rund 300.000 Einwohner. Der Hafen ist Ursprungsort und Keimzelle der Stadt. Fast jeder lebt hier mit und vom Hafen. Die Bucht wird von Werften, großen Lagerhäusern, Autoverladeplätzen, dem Containerhafen und den großen Fischhallen und Fischhandelsunternehmen dominiert. In der Flussmündung liegen hunderte Muschelzuchten. Die eigentliche Stadt mit ihrem historischen Zentrum umrahmt dies an den steilen Hängen des Verdugo-Deltas.
Mauern aus Beton können die Artenvielfalt steigern.
Eines der Nachhaltigkeitsprojekte im Hafen von Vigo ist die Erprobung von sogenanntem „E-Concrete“, übersetzt Öko-Beton. Dies sind Betonplatten, die natürliche Strukturen von Felsen imitieren und so eine ideale Oberfläche für Seetang, Algen und andere Organismen wie Muscheln und Schwämme bieten, die in Windeseile die Betonplatten beleben. Ihrer Ansiedlung folgen Fische und Krabben, Krebse und Garnelen, Seenadeln und Seepferdchen. Innerhalb von drei Monaten hat sich hier an der „Nautilus“, der Observationsplattform im Hafen von Vigo, ein neues Ökosystem aufgebaut. Es ist bereits sehr vielfältig, sodass man sich freudig ausmalen möchte, wie es hier in einem Jahr aussieht. Das Leben findet immer seinen Weg, wenn man ihm eine Chance gibt.
Wir beobachten das Projekt weiter, finden es aber durchaus sinnvoll, sodass wir auf Nachahmer hoffen!
Die „Krabbe“.
Diese Idee könnte, gemeinsam mit dem neu erschaffenen Lebensraum durch belebte Kaimauern (s. Teil 3/13), wirklich Potenzial haben. Es gilt, die Widrigkeiten unserer Zivilisation ein wenig in Schach zu halten, bis wir endgültige Lösung gefunden haben, dass kein Plastik mehr in die Meere gelangt.
Der Bussard im Hafen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Kameramann. In einem Seehafen. Vor ihnen steht ihre sauteure Kamera – und droht zu kippen, weil gerade ein ein Wüstenbussard auf ihr landet! Hendrik Schmitt von „The Jetlagged“ hat sehr hörbar den Atem angehalten! Zum Glück haben Tier und Kamera das Rendezvous schadlos überstanden. Nach kurzem Verweilen wechselte die Bussarddame wieder auf den Arm ihres Falkners Daniel.
Die Aufgabe der beiden Wüstenbussarde und ihrer Falkner im Hafen von Vigo ist durchaus sinnvoll: Möwen können als ewige Begleiter der Sardinenfischer im Hafen recht renitent werden, wenn es ihr Futter geht, um Fisch. Man kennt das von der Nordsee, wenn man leichtsinnig sein Fischbrötchen auf der Promenade isst und unter Umständen schmerzlich erfährt, wie diese großen Vögel vorgehen. Die Wüstenbussarde wehren im Hafen von Vigo die Möwen ab, so dass die Fischer in Ruhe entladen können, ohne von hunderten anwesender Möwen attackiert zu werden.
Die Zé do Apache. Haifischerei! Nicht nachhaltig.
Am 24. Juli 2023 landete der portugisische Longliner Zé do Apache wie fast jede Woche in Vigo Haie an. Das Erschreckende bei dem Fang dieses Schiffes war die Zusammensetzung der Zahl der angelandeten Tiere: Auf 15 Paletten stapelten sich etwa 1.300 extrem junge Blauhaie. Kaum geboren, schon am Langleinenhaken!
Das Gesamtgewicht betrug an diesem Tag knapp 7,7 Tonnen Blauhai. Darunter waren 9 Haie mit einem durchschnittlichen Gewicht von je 43 kg, und etwa 1.300 Blauhaie mit je rund 5 kg.
Hierbei darf nicht vergessen werden: diese Blauhaie sind Beifang – eigentlich hat der Fischer eine Lizenz für Schwertfisch. Davon hat er auch ein einsames Exemplar mit immerhin 127 kg Gewicht mitgebracht – und etwa die 60fache Menge an “unerwünschtem” Beifang! DAS ist der Ausverkauf des Nordatlantiks!
Die AIS-Daten verraten, warum so viele junge, nicht fortpflanzungsfähige Haie am Haken landen: Die Zé do Apache fischt ausschließlich vor der portugiesischen Küste in einem bekannten Brutgebiete der Blauhaie. Wir bestreiten überzeugt, dass dieser Fang ein “Zufall mit fast nur Beifang” ist. Wir unterstellen absolute Absicht – dieses Schiff wollte junge Blauhaie fangen.
Diese Generation an Haien wird in fünf bis acht Jahren zur natürlichen Fortpflanzung der Art fehlen, ausgelöscht durch eine rücksichtslose, nicht nachhaltig praktizierte Fischerei, die fast wöchentlich in Vigo anlandet!
Nachhaltige kleine lokale Sardinenfischerei.
Im Hafen von Vigo treffen wir José Manuel S.A., Kapitän eines 18 Meter langen Fischkutters, der Sardinen und Makrelen mit der Ringwade fischt. José ist ein nachhaltig arbeitender, lokaler Fischer, einer jener, die unter der großen industriellen Fischerei leiden. Er ist seit 40 Jahren im Geschäft und hat turbulente Zeiten durchlebt.
Vor nicht allzu langer Zeit, berichtet er, brachen die Sardinenbestände komplett in sich zusammen: Überfischung. Er berichtet von großen Schiffen, die damals bis zu 80 Tonnen Sardinen und Makrelen in Vigo anlandeten. „Es war ihnen damals erlaubt! Und wenn Du ein großes Schiff hast, dann musst Du profitabel arbeiten, also musst du Fisch fangen, auch in diesen Mengen!“, so José.
Er selbst hat ein kleines Schiff, mit dem er aktuell an vier Tagen der Woche auf das Meer hinausfahren darf, streng reglementiert. Als vor Jahren die Bestände kollabierten, waren das sieben harte Jahre, in denen viele kleine lokale Fischer aufgaben und in andere Fischereien und Branchen abwanderten. Es gab in dieser Zeit sehr starke Beschränkungen. Mit Erfolg: als sich nach sieben Jahren der Schonung die Bestände erholt hatten, gab und gibt es wieder Sardinen in rauen Mengen. Trotzdem müssen die Fischer strenge Quoten einhalten, wofür José nur begrenzt Verständnis hat.
Modernste Technik, die es vor Jahren noch nicht gab, so berichtet José, ermöglicht es ihm, genau zu bestimmen, welchen Schwarm er mit seiner Ringwade einkreist, und welche Menge Fisch dann in der Ringwade ist. Sein Schiff fasst 3,2 Tonnen Fisch. Alle Fische schwimmen zunächst in der Ringwade; er entlässt die Fische, die er nicht an Bord holen kann, wieder lebend ins Meer. Dies ist eine nachhaltige Fischerei, die durch strenge Quoten reglementiert wird.
Und doch hat José große Sorgen. Sardinen erzielen bei der Fischauktion in Vigo im Schnitt derzeit noch 60 Cent pro Kilogramm. Er verdient mit seinen 3,2 Tonnen also gerade einmal 2.000 Euro pro Fangfahrt, wenn alles gut läuft. Davon muss er das Schiff mit dem Fanggerät Instandhalten, den Treibstoff, Steuern und seine Crew bezahlen. „Ein Schiff wie die Colomba, wie ich es habe, muss mit zehn Leuten durchschnittlich 4.000 Euro am Tag verdienen, sonst wird es unrentabel. Und wir dürfen nur an vier Tagen in der Woche, also an 16 Tagen im Monat auf das Meer hinaus.“ José hat große Sorgen, irgendwann aufgeben zu müssen, wenn sich an dieser Lage nichts ändert.
Und dann sind da ja auch noch, so José, die großen Fischtrawler der Franzosen und Norweger, die auch Sardinen und Makrelen mit riesigen Ringwaden fischen. Diesen industriellen Fischereien sind keine Quoten aufgerlegt, was José sichtlich verärgert: „Es muss ein Gleichgewicht zwischen nachhaltiger Fischerei und der Rentabilität des Unternehmens geben!“
(Freie Übersetzung und Zusammenfassung des in Galizisch geführten Interviews.)
Wir müssen Josés Fazit Recht geben. Nicht er und die kleinen Fischereien sind das Problem, sondern die bis zu 140 Meter langen, industriellen Fischereischiffe, die die Ozeane leerfischen.
Wir erlebten einen sehr sympathischen Fischer, der um seine Existenz bangt, obwohl er eine nachhaltige Lösung des Problems sein könnte, würde man ihn nur lassen.
Die Fascinios do Mar, Schiffskennung: PTVIC-113721-C.
Der Fang war ein eher typischer:
142 Blauhaie mit einem Gesamtgewicht von 6,992 t
21 Schwertfische mit einem Gesamtgewicht von 0,903 t
2 Blauflossenthunfische mit einem Gesamtgewicht von 0,418 t
43 Schlangenmakrelen mit einem Gesamtgewicht von 0,559 t
Auch hier überwiegen die Blauhaie alle anderen Fischarten, allerdings in diesem Fall in erster Linie geschlechtsreife Haie mit einem Durchschnittsgewicht von jeweils rund 49 kg (ausgeweidet).
Vigos Plastikstrand.
Doch auch diese Insel hat ein Problem: das Plastikproblem. Zusätzlich zu den „üblichen Verdächtigen“ (wie wir sie nennen) an Zivilisationsmüll (Wattestäbchen, Verpackungen, Wäscheklammern und diversem anderen Einwegplastik) gesellen sich hier einige merkwürdige Stäbe dazu, die wir so noch nie an einem Strand gefunden haben.
Des Rätsels Lösung: Das sind Plastikstäbe aus Muschelfarmen. Sie bestehen aus recyceltem Plastik und werden in die Seile eingeflochten, um den Muscheln besseren Halt zu geben. Diese Farmen umringen die Deltas der Flüsse und die Küste Galiciens wie ein Netz tausender kleiner Inseln. Auf der Seite des Herstellers der Stäbe heißt es: „Sie bestehen aus hochwertigem Material, sind flexibel und unzerbrechlich, und halten den modernen Maschinen stand, die zum Abschütteln der Muscheln von den Seilen verwendet werden. Sie sind so konzipiert, dass sie nicht von den Seilen fallen, auch wenn diese mit der Zeit an Torsion verlieren.“ (Quelle).
Diese Werbung ist eindeutig ein Trugschluss: Die Stäbe landen beim Einholen der extrem schweren Muschelstränge im Meer und an den Stränden, wo sie zu hunderten herumliegen. Kann man hierfür kein Naturmaterial wie Holz verwenden?
Rochenflügel.
Nun fragt sich der ahnungslose mitteleuropäische Betrachter angesichts der Form dieser Fische: Was ist da eigentlich zum Essen dran, außer Knorpel? Rochen gehören genauso wie Haie zu den Elasmobranchii, den Plattenkiemern. Sie sind Knorpelfische und haben so gut wie kein Fleisch in ihren „Flügeln“, die vermarktet werden.
Doch es gibt scheinbar auch Abnehmer für Rochenflügel!
Wer in Deutschland isst Rochenflügel?
Man möchte es nicht glauben: es gibt über 700 Rezepte für Rochenflügel! Man muss nur auf den gängigen deutschsprachigen (!) Internetplattformen für Kochrezepte surfen. Allein auf dem bekanntesten Portal für den suchenden Chefkoch werden über 700 unterschiedliche Rezepte mit Rochenflügeln als Treffer ausgespuckt!
Wir möchten nicht nur aus Artenschutzbedenken dringend davon abraten, Rochen zu verspeisen – die Warnung erfolgt ausdrücklich auch aus gesundheitlichen Bedenken! Finger weg von diesem Produkt.
Wen haben wir in Vigo angetroffen? Unsere Protagonisten.
Ein kluger Kopf hat einmal gesagt: “Wenn Du ein Tier rettest, rettest Du nicht die ganze Welt, aber Du rettest die Welt dieses einen Tieres!“
Lassen wir die Portraits der toten Individuen für sich sprechen! Sie haben unseren Respekt verdient. Denn: in Vigo geschieht immer noch systematisch Schreckliches!
Unser Fazit der Expedition im Juli 2023: Es ist schrecklich!
Immer noch geschehen in Europa Dinge, die man einer der ältesten Zivilisationen nicht attestieren möchte. Aus Gewinnstreben wird systematisch zerstört, was unser Leben ausmacht – und diese Zerstörung gefährdet nur vordergründig die Arten des Meeres: am Ende gefährdet sie auch unser eigenes Überleben.
Jede:r Einzelne von uns – als Konsument:in und als politisches Wesen – hat es in der Hand, ob dies so weitergeht. Initiativen wie #StopFinningEU arbeiten ebenso dagegen an wie wir mit der Aufklärung der Bürger:innen.
Es ist noch ein weiter Weg.
Aber wir wollen uns tatsächlich auch noch bedanken: bei der Hafenpolizei, die uns geduldet und betreut hat; sie hätte durchaus anders reagieren können. Gemeinsam mit der recht kulanten Hafenverwaltung wurde Transparenz bewiesen und sogar ein Interview mit einem lokalen Sardinenfischer vermittelt.
Es gibt bei allen Dingen stets zwei Seiten. Wir haben beide im Hafen von Vigo gefunden. Bei all den schrecklichen Bildern von toten Haien und Rochen, bei all den toten Fischen, die jeden Tag auf diesem Markt gehandelt werden – wir wurden Großen und Ganzen wohlwollend empfangen und fanden offene Ohren für unser Anliegen.
Es ist unser Konsum, unser Hunger nach Fisch und Meeresfrüchten, der diesen Markt nährt. Jede:r Einzelne von uns, die:der Fisch isst, ist für diese Bilder mitverantwortlich.
Denkt einmal darüber nach!