Zwischen den Schlickböden des Wattenmeeres und den rauschenden grauen Wellen der deutschen Hochsee scheint die Nordsee trist und leblos. Aber weit gefehlt.
Zwar bieten die zumeist sandigen Böden weniger reiche Lebensräume als tropische Riffe, aber dennoch beherbergt die Nordsee mehr als 10.000 Tier- und Pflanzenarten! Darunter mindestens 150 Arten von Fischen, kleinen Sandaalen und Heringen bis hin zu Seltenheiten wie dem Kurzschnäuzigen Seepferdchen und dem Engelshai.
In dieser Serie nimmt ElasmOcean mit in die unterschätzten Gewässer unseres Heimatmeeres, das unsere Anerkennung und unseren Schutz ebenso verdient wie seine großen Geschwister.
Meer Schutz durch Wissen eben.
Quelle: CWSS (2022): Wadden Sea Quality Status Report

Der Mensch und “sein” Meer – Spurensuche
Lange, bevor die Nordsee bis an unsere Küsten reichte, war sie ein von Jäger:innen und (Muschel-)Sammler:innen vielgenutzter Lebensraum. Das junge Meer erreichte erst durch den Meeresspiegelanstieg vor etwa 20.000 Jahren seine heutige Ausdehnung. Daher ist die Nordsee vergleichsweise flach – in der Deutschen Bucht liegen die Wassertiefen zwischen 20 und 50 Metern.
Der Einfluss des Menschen hat überall seine Spuren hinterlassen: Verklappte Munition und Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg liegen in ungezählter Menge am Meeresgrund, dessen Sandböden ständig in Bewegung sind und die Bergung erschweren. Rhein, Elbe, Weser und Ems überlasten die Nordsee mit Dünger von deutschen Feldern. Die Schifffahrtsstraßen Terschelling und German Bight Western Approach zählen zu den meistbefahrenen Seestraßen der Welt. Offshore-Windparks nehmen zunehmend Raum ein. Und die Fischerei ist so aktiv, dass statistisch betrachtet jeder Quadratmeter der deutschen Nordsee 1,25-Mal pro Jahr von einem Grundschleppnetz überzogen wird.
Wie man da noch den Überblick behält, erfahrt ihr gleich.
Quellen:
Emeis (2015): The North Sea – A Shelf in the Anthropocene. https://doi.org/10.1016/j.jmarsys.2014.03.012
Eigaard (2017): The footprint of bottom trawling in European waters: distribution, intensity, and seabed integrity. https://doi.org/10.1093/icesjms/fsw194

Ordnung oder Chaos? Der Raumordnungsplan
Wem gehört ein Meer?
Normalerweise darf ein Land das Meer bis 200 Seemeilen von der Küste entfernt sein Eigen nennen – was schwieriger ist, wenn diese Zonen sich überlappen. Die Nordseefläche teilen wir uns daher mit anderen Staaten wie Dänemark, den Niederlanden und Großbritannien. Wir haben uns mit diesen Ländern geeinigt, und die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) Deutschlands umfasst etwa 23.417 km² Nordsee. Diese “deutsche Nordsee” wird von vielen Akteuren beansprucht: Seefahrt, Fischerei, Offshore-Windparks, Seekabel, Rohstoffgewinnung, Militär, Freizeitbereiche, Naturschutzgebiete. Um alle diese rechtlich und organisatorisch unter einen Hut zu kriegen, arbeitet das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) fortlaufend am sogenannten “Raumordnungsplan”.
Hierbei führt das BSH eigene Messungen und Forschung durch, und koordiniert auf diesen Erkenntnissen die Schifffahrt, die militärischen Operationen und den Ausbau der Windparks.
Windparks sind dabei ortsgebunden, weshalb man längerfristig und änderungsärmer planen muss. Der Nutzungsumfang wird in einem sogenannten “Flächenentwicklungsplan” vorbereitet, in dem u.a. die Umweltauswirkungen ausführlich geprüft werden. Jährliche Ausschreibungen für neue Flächen sollen Planungssicherheit bieten und einen effizienten Ausbau mit geringen Strompreisen gewährleisten.
Und die Nordsee-Bewohner? Das erfahrt ihr gleich!
Quelle: BSH (2025): Flächenentwicklungsplan 2025

Fliegende Pinguine
Wer bewohnt so die Nordsee? Fangen wir “oben” an.
Manche:r Tourist:in auf Helgoland mag die Bewohner an der Langen Anna für Pinguine halten, doch die Trottellumme und der Tordalk sind als Alkenvögel nah mit den Watvögeln und Möwen verwandt. Beide Arten tragen im Sommer das dunkle Prachtkleid mit dem schwarzen Kopf, während sie im Winter in ein helleres Gefieder wechseln. Lediglich der spitze Schnabel unterscheidet die Trottellumme sichtbar vom Tordalk.
Die Europäische Population der Trottellummen wird auf 2,4 – 3,1 Mio. Tiere geschätzt, jedoch sehen sich die Tiere zunehmenden Bedrohungen ausgesetzt: Meeresmüll wie alte Fischernetze und Dolly Ropes, steigende Wassertemperaturen durch den Klimawandel, und Vogelgrippe-Epidemien senken die Überlebenschancen der Trottellummen. Auch ist mittlerweile bekannt, dass die Tiere abneigend auf Offshore-Windparks reagieren, sodass sie mit dem Bau der Windpark-Flächen Lebensraum auf der Nordsee einbüßen.
Quellen:
BirdLife International (2018): Species factsheet: Common Murre Uria aalge
Peschko (2024): Cumulative effects of offshore wind farms on common guillemots (Uria aalge) in the southern North Sea – climate versus biodiversity? https://doi.org/10.1007/s10531-023-02759-9

Der Arktische Flugkünstler: Einsturmvogel
Der Eissturmvogel ist ein weniger bekannter Bewohner der Nordsee. Früher war er so häufig, dass Siedlergemeinschaften ihn als (Haupt-)Nahrungsquelle nutzten. Mit nur noch 38 Brutpaaren auf Helgoland (2019) findet man ihn in küstennahen Gewässern nur selten, er gilt in Deutschland als streng geschützte Art. Der Vogel mit den steifen Flügeln und dem auffälligen Röhrenschnabel, der die Ausscheidung von Salz ermöglicht, fühlt sich draussen in der windumpeitschten Hochsee am wohlsten. Hier frisst er Krill, Quallen und Fische und zankt sich mit seinen Artgenossen gackernd um Fischereiabfälle. Daher ist er ein häufiger “Schiffsfolger”.
Und genau das wird ihm zum Verhängnis: Schätzungsweise 95% aller Eissturmvogel tragen Plastik im Magen, sodass sie innere Verletzungen davontragen oder sogar mit vollem Magen verhungern.
Quellen:
Heinrich-Boll-Stiftung: Plastikatlas 2019. ISBN 978-3-86928-200-8
Verein Jordsand: Der Eissturmvogel. https://www.jordsand.de/helgoland/eissturmvogel/

Ein Zwerg ganz groß
Für einen Bartenwal mag er ziemlich klein sein, doch der Name “Zwergwal” wird dem bis zu 8 Meter großen Meeressäuger wohl kaum gerecht. Er ist ein selten gesehener Bewohner der Nordsee – einerseits, weil er nur gelegentlich seine Rückenflosse zeigt, andererseits, weil die Art stark durch den Walfang dezimiert wurde und sich nur langsam erholt. In unseren Gewässern werden sie am häufigsten weit draußen auf der “Doggerbank”, einer etwa 20 Meter flachen Sandbank gesichtet.
Heute stellen Fischernetze, in denen die Wale sich verstricken, und der Klimawandel die größten Gefahren für die Zwergwale dar.
Sie kommen in allen Meeren vor, aber die Populationen aus der nördlichen und südlichen Hemisphäre treffen sich wegen der unterschiedlichen Jahreszeiten, in denen sie gen Äquator wandern, nur selten – vielleicht bilden sich aus den beiden heutigen Subspezies im Laufe der Zeit zwei neue Arten…
Quelle: Sun et al. (2022): Estimating the impacts of climate change on the habitat suitability of common minke whales integrating local adaptation. https://doi.org/10.3389/fmars.2022.923205

Echolot – Stille Post
Berühmt, berüchtigt und scheu: Der Schweinswal ist sowohl in der deutschen Nordsee als auch der Ostsee heimisch.
Mit 1,4 m ist er ein Winzling unter den Meeressäugern – mit natürlichen Fressfeinden.
Kegelrobben machen gelegentlich Jagd auf die Tiere, um Bissen ihrer fetthaltigen Haut zu ergattern. Auch Angriffe durch Große Tümmler sind bekannt.
Außerdem zählen der Weiße Hai und der Orca zu den natürlichen Feinden des Schweinswals. Spannend daran: Orcas hören bis zu einer Frequenz von etwa 125 kHz, die Klicks der Schweinswale, die sie für Echoortung nutzen, liegt jedoch bei 130-140 kHz, sodass ihre Laute dem Gehör des Killerwals knapp entgehen – eine wichtige Überlebensstrategie. Zum Vergleich: Das menschliche Gehör reicht von etwa 20 Hz bis 20 kHz.
Ganz oben auf der Liste der Gefahren steht aber ein anderer: der Mensch. Mehr dazu im nächsten Teil der Nordsee-Reihe.
Quelle: Miller und Wahlberg (2013): Echolocation by the harbour porpoise: life in coastal waters. https://doi.org/10.3389/fphys.2013.00052

Kleiner Wal, kurzes Leben
Der charismatische Schweinswal gilt in Nord- und Ostsee als stark gefährdet. Neueste Zählungen gehen von ungefähr 345.000 Tieren in Nordsee und Nordostatlantik aus. Obwohl sie bis zu 24 werden könnten und erst mit 5 oder 6 Jahren geschlechtsreif sind, werden Schweinswale in der Nordsee nur etwa 5 Jahre alt – eine immense Bedrohung für die Population. Viele Tiere sterben, bevor sie Jungtiere austragen oder säugen konnten, denn die Tragzeit beträgt etwa 10 Monate und das Säugen noch einmal so lange.
Die häufigsten Bedrohungen für die Meeressäuger sind Krankheiten und Giftstoffe, gefolgt von der Fischerei – entweder, weil sie als Beifang in den Netzen landen, oder aus Nahrungsmangel.
Bisher gibt es diverse Schutzabkommen: Die Bonner Konvention (CMS) listet den Schweinswal als zu schützende Art, die Europäische Flora-Fauna-Habitat-(FFH-)Richtlinie sieht spezielle Schutzgebiete vor, um den Erhalt der Art zu sichern. Wie das funktioniert, erfahrt ihr im nächsten Teil der Nordsee-Serie.
Quellen:
Kesselring et al. (2019): Coming of age: – Do female harbour porpoises (Phocoena phocoena) from the North Sea and Baltic Sea have sufficient time to reproduce in a human influenced environment? https://doi.org/10.1371/journal.pone.0186951
Carlén et al. (2021): Out of sight, out of mind: How conservation is failing European Porpoises. https://doi.org/10.3389/fmars.2021.617478
Diese Serie wird fortgesetzt.